«Leben und Federn» lassen

Ganz herzlichen Dank euch allen für die lieben Glückwünsche!

 

Heute ist ein Tag wie jeder andere. Ich stehe um 6:15 auf und freue mich auf den Kaffee. Der erste ist immer der beste. Egal welcher Mahlgrad, egal ob eine Maschine, oder ein Mensch ihn gebraut hat. Hauptsache er ist da. Ich bin in der Hinsicht relativ unkompliziert. Danach gehe ich den Arbeiten nach, die getan werden müssen. Diese verlangen heute etliche Interaktionen mit Menschen. Das stellt für mich in der Früh jeweils eine Herausforderung dar, obwohl ich im Grunde jeder Begegnung, sei sie auch zu Unzeiten, etwas abgewinnen kann. Nach getanen Pflichten gehe ich mit Hundini spazieren. Wir erkunden neues Terrain. Das braucht die Hundenase manchmal, sonst wird ihr langweilig. Wir marschieren zwischen Schaf- und Kuhweiden, begrenzt mit geladenen Weidezäunen in Richtung Wila. Hundini fürchtet sich vor Kühen und vor Draht. Er wurde von beiden schon einmal angegriffen. Die Schafe will er jagen. Viele liebenswerte Geburtstagswünsche signaltonen auf allen möglichen Kanälen auf dem Handy. Der Zahn der Zeit hat kein Karies, meint ein treuer Freund. Ich lache laut und die Schafe schauen auf. Hundini zieht an der Leine und will zur Töss hinunter, um Wasser zu trinken. Das Wasser sieht schmutzig aus. Bräunliche Schaumkrönchen kräuseln auf der schwachen Strömung und es riecht nach totem Fisch. Mein Menschenhirn will Hundini daran hindern die Brühe zu trinken. Er tut es trotzdem. In solchen Momenten findet er mich bestimmt blöd. Es fängt an zu regnen. Ich trage eine Faserpelzjacke, was ungünstig ist. Deshalb nehmen wir eine Abkürzung und gehen Hundefutter kaufen, bevor wir dann nach Hause fahren. Auf der Heimfahrt höre ich Radio. Ein Cello Konzert wird gespielt. Es passt zum verhangenen Himmel und den milden Herbstfarben, aber so gar nicht zu meiner Laune.

 

Mir ist in letzter Zeit eher nach Fanfaren und Trompeten. Laut und stolz und majestätisch. Deshalb schalte ich ab. Den Rest der Fahrt lege ich zurück ohne spätere Erinnerung daran. Zu Hause gibt es den zweiten Kaffee. Türkisch, weil ich faul bin. Früher habe ich jeweils erwartet, dass irgendetwas spezielles passiert an meinem Geburtstag. Heute weiss ich es zu schätzen, wenn nichts spezielles passiert. Ich lege mich auf das Sofa und lausche der Stille. Ich habe seit Jahren Ohrengeräusche. Ganz still ist es deshalb nie. Aber man darf nicht meckern. Hundini schmatzt in seinem Hundebett. Er hat saures Aufstossen. Auch er trägt es mit Fassung. Ich warte auf den Anruf der Ärztin meiner Mutter. Meine Mutter ist betagt und nicht mehr urteilsfähig. Das soll nun Frau Doktor bescheinigen für die KESB. Die Welt ist kompliziert geworden. Man muss sich dafür einsetzen, wenn man die Angelegenheiten der alternden Eltern selber regeln möchte. Der Staat schnörret da sonst mit. Die Sonne kommt und ich gehe in den Garten, die letzten Bohnen und Tomaten ernten. Der Nüsslisalat spriesst prächtig und der Winterkohlrabi wird dickbäuchig. Das sind gute Zeichen. Es ist wichtig auf Zeichen der Natur zu achten. Man könnte noch Tulpenzwiebeln setzen, oder an anderer Stelle die Welt zu retten versuchen. Der junge Nachbar vom Nebenhaus ruft fröhlich „Happy Birthday“ vom Balkon hinunter. Ob es denn gut gehe, möchte er wissen. Ich hepe laut; „ja, voll“. Zum Jäten ist es mir zu nass, deshalb gehe ich wieder hinein und spiele ein paar Stücke auf der Handorgel. Das Örgeli ist mein neues Lieblingsinstrument. Vielleicht probiere ich mich in den kommenden Wintermonaten einmal auf dem Schwyzerörgeli. Das muss ich noch organisieren. Es gibt noch so vieles zu entdecken. Ich möchte grosse Bilder der Schweizeralpen malen. Und ich möchte endlich fliessend den Bassschlüssel lesen können. Und wieder einmal in‘s Engadin fahren. Und mich stets neu verlieben. Damit der Himmel offen bleibt. Aber zuerst muss ich die Balkongeländer streichen. Ich gehe nach draussen und inspiziere die abblätternden Farbschichten und den Feierabendstau auf der Europabrücke und streiche im Geist schon einmal vor. Mit Schuppenpanzerfarbe. Oh, wie ich dieses Wort liebe!

 

SCHUPPENPANZERFARBE! Höngg ist lärmig. Überall wird gebaut, gefuhrwerkt und gefeuerwerkt. Weiss der Geier, was die Leute dauernd feiern. Wenn ich Königin wäre, würde ich Knallkörper verbieten. „Königin müsste man sein“, rufe ich vom Balkon zum jungen Nachbarn auf dem Nebenhausbalkon hinüber. Er meint lachend; „ja, voll!“ Zum Znacht gibt es Kuchen, ein Vollbad und Musik aus der Schallplattensammlung meines Vaters. Bach mag ich im Moment besonders gerne. Auch ohne Fanfaren. Der Nagellack an den grossen Zehennägeln blättert ebenfalls. Und die Birke vor dem Badezimmerfenster laubt.

An luftigen Novembertagen mag ich es, still am Fenster zu sitzen und über die Stadt zu schauen, mit den Gedanken bei meinem Angebeteten, der vermutlich nicht das Geringste ahnt von der Verehrung und meiner ungewöhnlichen Gefühlslage. Die Spülmaschine plätschert, das Gebälk des Hauses knackt. Das Klavier muss gestimmt werden. In der Wohnung herrscht Unordnung. Eine Spur von Einsamkeit. Ich möchte mich an seine Schulter lehnen. Vielleicht nur das. Ganz leicht. Und dazu schweigen. Ein buntes Ahornblatt, das den Sims kaum berührt. Von einem mächtigen Strom erfasst treibe ich dahin und summe, als wäre ich selbst der Strom. Hingabe, scheint mir, ist der Schlüssel zur Ganzheit. Laut weit verbreiteter Meinung sollte ich mich längst um eine Klärung der Umstände kümmern. Um eine Verlautbarung. Eine Aussprache. Ich sollte das Risiko der Ernüchterung auf mich nehmen, zugunsten einer vermeintlichen Gewissheit, fernab jeder Poesie. Die Hoffnung zerschlagen, weil sie mich aufhält und weil ich schlechte Karten habe. Die Hoffnung ist aber kein altes Geschirr, das zerschlagen werden kann und die Liebe kein Kartenspiel. Klartext kann erschrecken. Sehr sogar. Alles in mir sträubt sich gegen die Kälte von Klartext. Die Zukunft ist offen und die Schöpfung äusserst kreativ. Es liegt nur Weniges in den eigenen Händen. Mit ihnen zu gestalten ist wundervoll, mit ihnen nach Erfüllung zu grabschen jedoch der geistige Untergang. Ich werde den Rest des Jahres ausbrüten. Auch den Januar mit seinem zähen Hochnebel werde ich ausbrüten. Und immer so weiter, wenn es sein muss, Monat für Monat. Einen weiteren zerstreuten Sommer lang, in den nächsten Herbst hinein. Wo immer es hinführt. Bis zum Abspann. In 48 Tagen ist Weihnachten. Ein lieber FB-Freund macht den Countdown für mich. Ich zünde keine Kerze an. Ich fürchte, dass ich sie nicht ausblase, bevor ich hinausgehe.

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